Bremer Wissenschaftler haben weltweit einmalig einen Roboter programmiert, der gelähmten Menschen ein selbstständiges Arbeiten ermöglicht. Ein Besuch im Institut für Automatisierungstechnik (IAT) der Universität Bremen.
Niemand spricht. Nur das Brummen der Computerlüftung erfüllt den Raum, und alle starren auf ein Regal. Lautlos fährt die Greifhand des Roboterarms heran und zielt auf einen Buchrücken. Die sieben Gelenke des gut 1,5 Meter langen Gerätes arbeiten ohne Eile. Kurz bevor der Roboterarm das Buch aus dem Regal nimmt, zögert er und scheint zu überlegen: „Wirklich dieses – oder lieber doch ein anderes?“ Dann greift er zu, und – er greift vorbei. „Ausgerechnet jetzt zickt er rum“, ärgert sich Doktorand Henning Kampe, „ganz klar der Vorführeffekt.“
Gebäude „NW1“ der Bremer Universität. Im Raum sind außer Henning Kampe die Doktorandin Tatsiana Malechka und Lena Kredel mit ihrer Assistentin Victoria. Kredel sitzt wie eine Astronautin am Leitstand einer hoch komplexen Maschine namens „Functional Robot arm with user-frIENdly interface for Disabled people“, kurz: „FRIEND“.
Der Laie registriert ein Monstrum aus Kabeln, Dioden, seltsamen Apparaturen, einem Pult mit futuristischer Mechanik und einer Elektronik aus Kabeln, Klemmen und Kontakten. Das Ganze ist im Prinzip ein Rollstuhl mit Computer, Bildschirm, Kameras, Joystick für das Kinn und mit einem Steuerungsring um die Stirn Kredels sowie jenem Roboterarm, der eben leider vorbeigriff.
Der FRIEND schenkt Selbstständigkeit
FRIEND ersetzt Kredels Hände, Arme und Schultern. Denn sie ist wegen einer Multiplen Sklerose vom Hals abwärts gelähmt. Für Lena Kredel ist der Roboter ein Segen. Er bescherte ihr nach elf Jahren Suche endlich einen sozialversicherungspflichtigen Job. Dank des schlauen Gerätes arbeitet sie trotz der Behinderung eigenständig als Bibliothekarin in der Staats- und Universitätsbibliothek Bremen.
„Dies ist weltweit der erste und einzige selbständige Arbeitsplatz für fast vollständig gelähmte Menschen“, sagt Professor Axel Gräser. Gräser verantwortet und führt das Forschungsprogramm seit 1997. „Wir haben deutschlandweit gesucht und mit Frau Kredel schließlich einen Glücksgriff gemacht. Sie passt perfekt ins Team und hat auch noch eine Ausbildung, die sie für die Arbeit in der Bibliothek befähigt.“ Die studierte Literaturwissenschaftlerin Kredel ist vor zwei Jahren aus Berlin an die Weser gekommen.
Lena Kredel bedient mit einem Kopfnicken den Steuerungsring und bewegt den Kursor. Ein zweites kurzes Kopfnicken – schon ist ein Befehl angeklickt. So schickt sie ihre Befehle an die Software, die den Roboterarm lenkt: „Nimm das Buch und schlage es auf dem Pult auf“. Nun errechnet eine Software aus dem Befehl und dem Bild, das die eingebaute Film-Stereokamera macht, selbstständig die nötigen Bewegungen des Roboterarms. Fast hätte der Arm auch die Vorführung mit dem Buch geschafft, bis das Malheur mit der Greifhand passierte.
„Das Arbeitsprogramm funktioniert zu 89 Prozent“, sagt Kampe. „Durch eine neue Funktion kann Frau Kredel den Vorgang auch mittendrin stoppen und neu starten. So wie jetzt. So haben wir fast 100 Prozent korrekte Abläufe.“ Forschung fordert Geduld, Geschick und ein eingespieltes Team. Die Bremer verfügen über alle drei Zutaten für den Erfolg. „Ich bin ja ein geduldiger Mensch“, lacht Kredel, „dann muss es der Computer auch sein.“ Also: Der Roboter greift erneut nach dem Buch – die Aktion klappt. Der Arm legt das Buch nun auf das Pult. Eine eigens angebrachte Mechanik kann es aufschlagen, und Kredel kann per Spracherkennungsprogramm die bibliothekarischen Angaben aus dem Buch in den Computer eingeben.
Gedanken lesen? Das nicht.
Gräsers Doktorandin Malechka arbeitet an einer noch verblüffenderen Technik. Über eine Kappe mit Elektroden kann die junge Forscherin elektrische Impulse aus dem Gehirn gelähmter Patienten auslesen und über eine Software in Handlungen einer Maschine umsetzen. „Brain-Computer-Interface“ heißt der Gegenstand der Forschung, also „Hirn-Computer-Schnittstelle“. „Wir können natürlich keine Gedanken lesen“, lacht Malechka. Aber man könne verschiedene Frequenzen im Hirn provozieren und von außen mit Elektroden als EEG unterscheiden.
So weit wie der Greifarm ist aber die Elektrodenkappe noch nicht gediehen. „Der Roboter-Greifarm und die komplette Maschine ließen sich inzwischen auch auf anderen Arbeitsplätzen einrichten“, sagt Gräser. „So könnten gelähmte Menschen selbstständig in Bibliotheken oder sogar in der Fertigung arbeiten.“
Lena Kredels Arbeitsplatz in der Bibliothek ist auf zwei Jahre begrenzt. Aber ein neuer Job ist schon in Aussicht. Sie kann in einem Team mitarbeiten, das Schulungen für zukünftige Nutzer von Unterstützungsrobotern und deren Kontaktpersonen in Rehabilitationszentren erstellt. „Das Wichtigste ist“, sagt Kredel, „ich brauche keine Arbeitsassistenz mehr. Ich komme selber klar.“
Mehr unter www.iat.uni-bremen.de
Autor: Christian Beneker
Hinterlasse jetzt einen Kommentar