„Elementare Krise“

O-Ton: Zweifel an der Gemeinsamkeit der Opfer

Gastronom Fernando Guerrero von der legendären Szene-Kneipe "Eisen" über die aktuelle Corona-Krise und die Krisen-Politik

„Ich bin Gastronom einer subkulturell in Bremen sehr verwurzelten, ollen (manche sagen: saturierten) Punkkneipe, die sich in den letzten Monaten der Krise kaum staatstragender, kooperativer und mäßigender hätte verhalten können.

Von FERNANDO GUERRERO

Wir durchleben eine elementare Krise, und es war und ist selbstverständlich, dass auch wir unseren Beitrag leisten, da GEMEINSAM durchzukommen.
Wer mich kennt, weiß, wie anstrengend harmoniesüchtig ich eigentlich bin.
Doch ich bin auch müde. Und in mir wachsen Zweifel, was die Gemeinsamkeit der Opfer betrifft, die wir dem Gemeinwohl verpflichtet leisten.
Die Opfer, die wir tragen, sind sehr ungleich verteilt. Und sie zementieren gesellschaftliche Strukturen (wenn ich z. B. alleine nur über die komplette Ignoranz zum Thema “Bildungschancen“ oder gar das Leben von alleinerziehenden Müttern nachdenke, beiße ich in den Tresen).
Und dafür klage ich weite Teile der Politik und der sie symbiotisch umwickelnden Lobbyverbände an.
Es ist mir sehr wichtig, dass dies KEIN allgemeines und plattes Politikerbashing sein soll!
Es gibt so viele engagierte und reflektierte Politiker*innen mit festem moralischen Kompass – diese verdienen unsere Hochachtung und es gilt, sie unbedingt zu stärken!

Und vielleicht können lähmende Müdigkeit und ohnmächtige Wut ja konstruktiv transformiert werden, um gemeinsam mit diesen Politikern an einer alternativen Antwort auf die Krise zu arbeiten, damit wir nach diesem dunklen Winter NICHT in einem sozialen und kulturellem Frühling ohne Licht aufwachen.

Ich möchte dafür folgende Thesen zur Diskussion stellen:

  1. KünstlerInnen, VeranstalterInnen, Clubs, Gastronomie… das Nachtleben per se, sowie – abgesehen von der „Hochkultur“ – sämtliche kulturellen und erst recht subkulturellen Vernetzungen werden von der Mehrheit unserer gesellschaftlichen Entscheidungsträger*innen als latent hedonistisch und subversiv wahrgenommen. Sie sind somit nicht systemrelevant und systemerhaltend, sondern in ihrer, an der neoliberalen Verwertungslogik orientierten Wahrnehmung systemgefährdend.
  2. Circa 1,5 Millionen Beschäftigten zum Trotz werden sie nicht als relevanter Wirtschaftsfaktor wahrgenommen. Der Komplettverlust dieser Branche (vergleiche mit dem Pampern von Auto-, Luftfahrt- und Fleischindustrie und vergleichbaren, paläontologischen Branchen) wird für das, was für diese wirtschaftlichen & politischen Entscheidungsträger*innen die Gesellschaft abbildet, als verschmerzbar angesehen und die verlorenen Arbeitsplätze eh dem Prekariat zugeordnet, da sie den nicht-monetären Mehrwert kulturellen Wirkens nicht erfassen können und wollen. Die prekäre Lage der freigestellten Arbeitnehmer wird gedanklich zudem eh schon in Niedriglohnstellen bei Amazon, Toennies etc. formatiert.
  3. Die aktuelle Krise wird von Teilen der aktuellen wirtschaftlichen & politischen Entscheidungsträger*innen als Chance erlebt, ihre neoliberalen Machtstrukturen zu zementieren und die fehlende Permeabilität der sozialen Schichten weiter zu zementieren. Alles, was in subkulturellen Strukturen passiert – wohlmöglich gar nachts – verstehen sie nicht, und sie vermuten dort eine Keimzelle zur Etablierung alternativer Gesellschaftsformen. Das wirtschaftliche Ausbluten und die Verringerung der Relevanz für die Zielgruppen mittels Wegfallens der kulturellen Infrastruktur über längere Zeiträume wird somit nicht als Krise, sondern als perfide Chance wahrgenommen.
  4. Die angesprochenen Entscheidungsträger*innen erfassen es entweder nicht, was für ein dramatischer Einschnitt es für die Jugend ist, wenn ihnen konstant ihre sozialen Räume genommen werden, oder schlimmer, sie erfassen es und nutzen bewusst die nun entstehenden Cluster der Privatpartys und die sich bald anschließende, aggressive Entladung der Wut und Frustration zur Stigmatisierung dieser Menschen als Feindbilder zur medialen Triebabfuhr ihres Wählerklientels und Erhöhung der gesellschaftlichen Akzeptanz für entsprechende Maßnahmen zur Demonstration von Handlungsfähigkeit (Stichwort Polizeigesetze).“

(Dieser Beitrag wurde zuerst am 27.10.2020 auf twitter veröffentlicht)