Es ist fast wie im Märchen: Aus einer unbekannten Mitarbeiterin eines Jugendradios in Bremen wird quasi über Nacht eine bekannte Moderatorin. Die junge Bremerin Anna Orlova startet gerade richtig durch. Dabei sah ihr Leben zunächst überhaupt nicht nach einer Erfolgsgeschichte aus.
Anna Orlova erinnert sich noch genau an den Moment, der ihr Leben verändern sollte. „Das war an einem Samstagmorgen 2018“ erzählt die Moderatorin, die damals die Social-Media-Kanäle des Bremer Jugendradios „Bremen Next“ betreute. Sie war gerade aufgewacht, schaute auf ihr Handy und traute ihren Augen nicht. Der Facebook-Kanal von „Bremen Next“ – ein Format des öffentlich-rechtlichen Radiosenders Radio Bremen – hatte über Nacht eine Million Menschen erreicht. Der Facebook-Kanal hat gerade mal knapp 57.000 Abonnenten. Was war passiert?
Böhmermann teilte ein Video von Orlova: So fing es an
Zusammen mit ihren Kollegen begab sie sich auf Spurensuche und fand heraus: Fernsehmoderator Jan Böhmermann hatte ein Video von „Bremen next“, in dem Orlova lustige Fragen aus dem Internet beantwortet, auf Facebook geteilt. Offenbar hatte ihm gefallen, was er gesehen hatte. Später outete er sich öffentlich als ihr Fan.
30 Sekunden verändern ihr Leben
Das Video verbreitete sich schnell im Netz und machte Orlova quasi über Nacht zu einer kleinen Internetbekanntheit. So wurde auch der Berliner Bestsellerautor Sebastian Fitzek auf den Clip aufmerksam. Vor seiner Karriere als Schriftsteller arbeitete Fitzek als Chefredakteur und Programmdirektor bei mehreren Radiostationen. Schon nach 20, 30 Sekunden – so erzählte er es später dem Berliner Boulevardblatt „B.Z.“ – hatte er genug gesehen. Orlova sei „eine Kodderschnauze mit Engelsgesicht“, lobte er. Er war so begeistert von der jungen Bremerin, dass er per Handy eine Kurznachricht an den Programm-Chef des Berliner Radiosenders Jam FM schickte. Auch ihm gefiel der Humor der jungen Bremerin. Fitzeks Nachricht war somit der Startschuss für einen Karrieresprung: Orlova bekam ein Jobangebot vom privaten Radiosender Jam FM, sie ging nach Berlin, wurde Moderatorin mit einer eigenen täglichen Sendung.
Orlova nutzt Instragram & Co. für ihre eigene Marke
„In dem Video, das Böhmermann geteilt hat, habe ich dumme Fragen aus dem Internet vorgelesen und noch dümmere Antworten gegeben“, sagt die 28-Jährige und fügt hinzu: „Das ist das, was ich richtig gut kann.“ Weil das so ist, hat sie nicht nur inzwischen eine eigene Radiosendung. Bei Instagram hat sie 16.000 Abonnenten. Ihre lustigen Videos auf ihrem Kanal annajamfm sind von allem ein bisschen zu viel: zu schnell, zu schrill, zu quietschig. Orlova veralbert Schmink-Anleitungen im Internet (und verpasst dabei fast die Moderation ihrer Live-Sendung), gibt ungewöhnliche Beziehungstipps – zum Beispiel für das richtige Schlussmachen – oder versucht, ihre Kollegin Tatjana zu einem „richtigen Mann“ zu erziehen. „Schritt eins: dein Blick. Der muss richtig sein. Guck böse. Weniger lächeln. Noch weniger lächeln.“ Tatjana lächelt, zieht Grimassen – und schafft es nicht.
Sie spricht derb und ist unangepasst
Hinter dem Quatsch verbirgt sich eine Frau, die verstanden hat, dass Aufmerksamkeit die wichtigste Währung im Medienbetrieb ist. Die weiß, wie sie Instagram & Co. nutzt, um ihre eigene Marke zu pushen. Orlova spielt in ihren Videos mit Stereotypen und überzeichnet auf humoristische Weise ihre Eigenschaften, die manche an ihr nervig finden: ihre Stimme, ihre derbe Sprache und ihre unangepasste Art. Mal posiert sie perfekt gestylt, mal ungeschminkt, mal per Filter verzerrt. Sie flucht, zieht Grimassen und sagt, was sie will und wie sie es will.
Zielscheibe für Hass aus dem Netz
Wie viele erfolgreiche Frauen, die ihre Meinung laut und deutlich sagen, wird sie dafür nicht nur bewundert, sondern auch angefeindet. „Für viele bin ich eine laufende Zielscheibe, weil ich bin, wie ich bin, und mir nicht den Mund verbieten lasse“, sagt die Moderatorin. Gerade online seien es die Menschen nicht gewohnt, jemanden zu sehen, der sich nicht verstellt. Die Folge: beleidigende Kommentare. Sie kommen vor allem von Männern, die sich von der zierlichen Frau mit dem großen Selbstbewusstsein offenbar provoziert fühlen. Dass sie sich davon nicht einschüchtern lässt, könnte an dem dicken Fell liegen, das sie sich schon früh zulegen musste.
Orlova kam mit acht Jahren nach Deutschland
Orlova wurde im russischen Saratow an der Wolga geboren, mit acht Jahren kam sie zusammen mit ihrer alleinerziehenden Mutter nach Deutschland. Erste Station: eine Flüchtlingsunterkunft. Nach einigen Wochen ging es weiter in eine Notwohnung im Bremer Stadtteil Lesum. Dort ging sie auf eine evangelische Grundschule – als einzige Ausländerin. Sie fühlte sich an der Schule nicht wohl, wurde ausgegrenzt. Nach einigen Monaten zog sie mit ihrer Mutter in eine Wohnung im Stadtteil Kattenturm. „In Kattenturm kamen die anderen Kinder auch aus sozial schwachen Verhältnissen, alle hatten zu Hause die gleichen Probleme wie ich“, erzählt Orlova. „Zum ersten Mal fühlte ich mich akzeptiert.“
Kein Geld, viele Probleme
Wenn Orlova von ihrem Leben erzählt, fällt auf, dass sie zwei Wörter besonders häufig benutzt: Das eine ist „Geld“, das andere „Freiheit“. „Ohne das eine ist das andere nicht zu haben“, so Orlova. Das habe sie schon als Kind lernen müssen. Ihre Mutter hatte lange keinen Job, arbeitete später als Putzfrau. Nie sei Geld dagewesen. Als ihre Mutter heiratete, brachte der Ehemann einen Sohn und noch mehr Probleme mit in die Familie. „Es ging drunter und drüber, jeden Tag gab’s Streit“, erzählt die Moderatorin. Ihr Stiefbruder hielt das nicht lange aus und haute von Zuhause ab. Orlova blieb und erkannte für sich, dass sie Geld verdienen musste, um das Leben zu führen, das sie sich wünschte.
„Einen Plan hatte ich nicht“
Mit 15 fing sie an, neben der Schule zu jobben, machte ihren Realschulabschluss und später eine Ausbildung zur Kommunikationsdesignerin. Anschließend arbeitete sie als Verkäuferin in einem Handyladen. „Der Traum, keinen vernünftigen Job machen zu müssen, war schon immer da, aber einen Plan hatte ich nicht“, sagt sie. Über eine Freundin kam sie 2018 dann an den Job als Community Managerin bei „Bremen next“. Zu ihren Aufgaben zählte es, Lob, Kritik und Fragen von Nutzern des Internetangebots des Senders zu beantworten. Im selben Jahr folgte der Ruf aus Berlin.
Anna, irgendwo im Nirgendwo
Seit über einem Jahr lebt Orlova nun mit Dackel Max in Moabit. Einmal im Monat besucht sie ihre Mutter und ihre Freunde in Bremen. Wo fühlt sie sich zu Hause? „Ich habe keine Heimat, in Deutschland bin ich Russin, in Russland Deutsche, in Bremen Berlinerin und in Berlin Bremerin“, antwortet die Frau mit dem russischen Pass. „Ich bin einfach Anna, irgendwo im Nirgendwo.“ Wie es weitergehen soll, weiß sie aber ganz genau: „2020 soll mir gehören“, betont sie. Ihr Plan sieht so aus: Sie möchte sich eine größere Zielgruppe erschließen, bekannter werden, mehr Geld verdienen.
Böhmermann: „Die geht mit dem Kopf nach vorne“
Prominente Schützenhilfe bekam sie dabei vor einigen Monaten mal wieder von Jan Böhmermann. In der YouTube-Sendung „Wetten, das war’s..?“ von Showlegende Frank Elstner schwärmte der Satiriker von der „unglaublich lustigen“ Radiomoderatorin aus Berlin. „Der ist wirklich alles egal. Die geht mit dem Kopf nach vorne“, sagt Böhmermann in dem Interview. Er habe sich „kaputtgelacht“.
Nächster Halt: Fernsehen?
Mit diesem Lob im Hintergrund könnte es mit ihrem Traum vielleicht tatsächlich bald etwas werden: Sie will ins Fernsehen oder ein eigenes Format auf einem Streamingdienst. Hauptsache sei, dass das Preis-Leistungs-Verhältnis stimme. „Mit wenig Leistung einen guten Preis erzielen, das ist mein Lebensmotto“, sagt sie lachend. Irgendwann will sie einen Mann, Kinder, die Freiheit, nicht mehr arbeiten zu müssen – und ein Haus. „Ich mache das alles nur, damit ich meiner Mama ein Haus kaufen kann“, sagt die Moderatorin. Ihre Mutter habe alles in der Heimat aufgegeben, um ihrem Kind in Deutschland ein besseres Leben zu ermöglichen. Nun solle sie sich wenigstens im Alter keine Sorgen mehr machen müssen. Aber Orlova weiß auch ganz genau, was sie nicht will: „Ich möchte kein Vorbild sein. Ich will den Leuten nur zeigen, dass es okay ist, so zu sein, wie man ist.“
Text: Beata Cece Fotos: Florian Stähr