Als Jonas Ginter im Frühjahr 2014 ein einminütiges Video von einer Radfahrt am Bremer Osterdeich ins Netz stellt, ist er ein ambitionierter, über Bremens Grenzen hinaus jedoch nicht unbedingt bekannter Fotograf. Der Clip wird in der Folge 2,3 Millionen Mal geklickt – so originell ist seine Optik. Seither sind Ginters ungewöhnliche 360-Grad-Aufnahmen in der Werbebranche gefragt.
Das Fenster steht offen, ein laues Lüftchen zieht durch den Büroraum, den sich Jonas Ginter mit anderen Kreativen in der Bürogemeinschaft „Plantage 9“ nahe des Bremer Bahnhofs teilt. Der Fotograf und Journalist sitzt an einem großen, rustikalen Holztisch und öffnet sich eine Brauseflasche. So entspannt wie jetzt war es im vergangenen Jahr wohl eher selten im Alltag des 29-Jährigen. Seine Kamerakonstruktion, die sein Berufsleben so plötzlich verändert hat, steht neben ihm auf einem kleinen Stativ: ein schwarzer Kunststoffwürfel, auf dem sechs kleine Kameras montiert sind. Eigentlich eine Spielerei, sagt der gebürtige Jenenser. Drei Jahre lang habe er damit in seiner Freizeit experimentiert; zahllose Aufnahmen gemacht, bis die Kameras in Anzahl und Winkel so justiert waren, dass die simultan gefilmten und sich ergänzenden Bewegtbilder zu einer lückenlosen 360-Grad-Perspektive montiert werden konnten. Er stellte einen ersten Clip ins Internet. Und der ging „durch die Decke“, erzählt Ginter.
„Planeten-Welten“: die 360-Grad-Videos
In dem Einminüter radelt er auf dem Osterdeich an der Weser entlang. Die Bilder der so genannten GoPro-Kameras ergeben zusammengeschnitten ein Bewegtbild und erzeugen die Illusion: Hier radelt einer über seinen eigenen, kleinen Planeten. Was Ginter „Machbarkeitsstudie“ nennt, erntete in kürzester Zeit begeisterte Kommentare im Netz, es folgten Interviewanfragen von Fernsehsendern aus Japan und den USA, dann Aufträge von der Band „Fettes Brot“, von Agenturen und Konzernen wie Mercedes Benz. Kapstadt, London, Madrid, Stockholm: Selbst ein Jahr später ist die Auftragswelle noch nicht versiegt, und es schwingt ein unausgesprochenes „Kneif mich mal“ mit, wenn Jonas Ginter erzählt. „Es war verrückt. Ich bin viel herumgekommen und habe viel gelernt.“
Ginters Clips sind Filme, die auf extreme und zugleich einfache Weise mit der Optik, der Perspektive spielen. Sie sind ein Gag, wie gemacht für’s Netz. Ein Novum, mit derart einfachen Mitteln solch eine Panoramalandschaft zu produzieren. Und eine Provokation für jeden Betrachter: Wie hat der das gemacht? In seinem Blog hat Ginter das detailliert beschrieben. Weder Kamera noch Würfel hat er originär erfunden – aber er hat eine Antwort auf die Frage gefunden, wie sich die 360-Grad-Optik, die in der Panoramafotografie „ja ein alter Hut ist“, in Bewegtbilder umsetzen lässt. Er hat das Netz nach Ideen durchforstet, Dinge kombiniert, ausprobiert und zahlreiche Stunden damit zugebracht, Bilder zu montieren. Als er die ideale Kombination aus Winkel und Anzahl von Kameras in dem per 3D-Drucker erzeugten Würfel vereint hatte, postete er das in seinem Blog und rief Leser auf, ihn auf welchem Gefährt auch immer mitzunehmen. Auf der Suche nach ungewöhnlichen Perspektiven. Seine Kameras sind seither Kanu gefahren, auf einem Segelflugzeug geflogen, später wurden sie für Aufträge am Auto montiert oder auf seinem Helm, während er mit einem Mofa über die Alpen fuhr.
Pionier auf Zeit
Dem Wahl-Bremer, der sich nach seinem Journalistik-Studium an der Hochschule Bremen auf Business- und Werbefotografie spezialisierte, eröffnete sich so ungeplant ein zusätzliches Tätigkeitsfeld. Als er zeitweise der Nachfrage allein nicht mehr Herr wurde, nahm er Kommilitonen und Freunde aus dem Kreativbereich mit ins Boot. Jetzt hat er einen Knowhow-Vorsprung. Die Technik ist zwar leicht nachzubauen, doch braucht es Erfahrung bei der Justierung der Kameras und der aufwendigen Postproduktion. Einem Drehtag folgen mehrere Tage am Rechner: Die Bilder müssen aufwendig zusammengesetzt werden, erst dann beginnt die eigentliche Bearbeitung mit Schnitt, Farbkorrekturen und Ton. Es hat Unternehmen gegeben, die es selbst probierten und ihn dann doch am Ende für die Postproduktion engagierten. „Es ist ein Riesenglück, dass ich diese Erfahrungen im letzten Jahr machen durfte“, sagt Ginter, der Pionier.
Selbst beschreibt er sich fast entschuldigend als „technik-bekloppt“. Wie man es auch nennen mag: Es gesellt sich gut zum Interesse des Fotografen und Journalisten an neuen Perspektiven. Technisch mögliche, aber auch die immer unterschiedliche, weil subjektive Sicht auf die Dinge. Dass seine „Planeten-Optik“ früher oder später von einer neuen Mode abgelöst wird, darüber macht sich der 29-Jährige keine Illusionen. „Ich freue mich, je länger es anhält.“ Solange wird er seine Dienstleistung anbieten und nebenbei wieder experimentieren: „Ab und an muss man spielen.“
„Es gibt nur Limits, die du selber setzt“
Derzeit sind Zeitraffervideos sein Steckenpferd und das boomende Feld der interaktiven 360-Grad-Videos, sprich „Virtual Reality“ (Virtuelle Realität). „Da wird viel probiert“, beobachtet Ginter. Auch auf seinem Tisch liegt eine Virtual-Reality-Brille, in die er jetzt sein Smartphone schiebt und dann den Kanu-Clip anklickt. Wenn man sie aufsetzt und den Kopf zur Seite dreht, schwenkt auch der Bildausschnitt in die Richtung. Es erzeugt das Gefühl, selbst mit im Boot zu sitzen. Was da technisch noch möglich ist? Jonas Ginter reizt das. Und eines, sagt er, habe er im vergangenen Jahr lernen dürfen: „Es gibt nur die Limits, die du selber setzt.“
Text: Astrid Labbert
Hinterlasse jetzt einen Kommentar